Cover
Titel
Zwischen Ansässigkeit und Mobilität.


Autor(en)
Delp, Dominik
Reihe
Studien zur Alten Geschichte
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clara-Maria Hansen, Doctoral School of Historical and Cultural Studies, Universität Wien

War die frühe Erforschung der griechischen Geschichte durch atheno-zentrische und deterministische Sichtweisen geprägt, so wurde sie in den letzten Jahrzehnten durch die Einführung neuer Ansätze und die Hervorhebung verschiedener Regionen und ethnischer Gruppen rund um das Mittelmeer relativiert.1 In dem Versuch, die Fallstricke der Debatte um die „Griechische Kolonisation“ zu umgehen, die lange Zeit die Forschung zur griechischen Archaik dominierte, versucht Dominik Delp in seinem neuen Buch, gegen die oft genannten Katalysatoren für die archaischen Migrationsprozesse zu argumentieren (etwa die Überbevölkerung am Ursprungsort oder den Handel). Konkret verspricht der Beitrag neue Perspektiven durch die Anwendung migrationstheoretischer Modelle auf Informationen aus literarischen Quellen.

Im ersten von vier Kapiteln legt Delp mit einer Diskussion migrationstheoretischer Konzepte, die für das Thema relevant sind, den Grundstein. Vor allem entwickelt Delp seine Auffassung von Migration als einer Kombination aus abwechselnden Perioden von Sesshaftigkeit und Mobilität. Weder das eine noch das andere sollte als natürlicher Zustand angesehen werden, da beide Formen eine Reihe von Ressourcen benötigen, um aufrechterhalten zu werden. Dies ist im Grunde keine neue Erkenntnis, bietet aber für die Erforschung der griechischen Kolonisation eine Art „Tabula Rasa“, von der aus neue Ansichten entwickelt werden können. Die Ressourcen, die weiter gefasst sind als nur die Rohstoffe, werden auch im Sinne des Bourdieu'schen Sozialkapitals verstanden. Zur Veranschaulichung der Ressourcen, die zur Verwirklichung von Sesshaftigkeit oder Mobilität erforderlich sind, wählt Delp als Grundlage Textquellen aus der archaischen Zeit (insbesondere Hesiods „Werke und Tage“ aus der Zeit um 700 v. Chr. sowie die homerischen Epen). Damit soll vermieden werden, dass spätere Quellen, z. B. aus der klassischen Periode, bestimmte zeitgenössische Bedingungen auf frühere Zeiten projizieren. Auch stellen die klassischen Quellen Erklärungen zur Herkunft ethnischer Gruppen oder Aspekte ihrer aktuellen sozialpolitischen Organisation dar, aber, wie Delp korrekt bemerkt, sind die tatsächlichen Migrationsprozesse nie Teil dieses kollektiven Gedächtnisses. Delp zufolge ist es zwar auch nicht unproblematisch, die älteren Quellen der Archaik zu verwenden, aber es wird argumentiert, dass sie immer noch einen gewissen Sinn für eine „Lebenswelt“ vermitteln, da sie von Rezipienten mit einem ähnlichen Hintergrundwissen verstanden werden müssten. Dieses erste Kapitel bildet den stärksten Teil des Beitrags, da er von einem großen Bewusstsein des theoretischen Diskurses geprägt ist, sowohl in Hinsicht auf die Migrationstheorie, aber auch die Forschungsgeschichte der griechischen Kolonisation.

Die nächsten Kapitel gliedern sich in die beiden Aspekte der Definition Delps von Migration: In „Anker der Sesshaftigkeit“ geht es um die Anforderungen an Rohstoffe, Ressourcen und Möglichkeiten, an einem Ort zu bleiben, und wie sie in die soziale Praxis eingebettet werden können. Anhand von Hesiod zeigt Delp zunächst, dass nicht Überbevölkerung die Migrationsprozesse auslöste (mehr Menschen ermöglichen ein größeres Maß an körperlicher Arbeit, was zu einem besseren Ernteertrag führt), sondern die ungleiche Verteilung von „Lebenschancen“: Anhand eines spannenden Beispiels aus dem Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts, als Gruppen, die nach Amerika auswandern wollten, nach ihren Motiven befragt wurden, wird gezeigt, dass eine (un)gerechte Behandlung und vor allem die Erwartung einer zukünftigen (un)gerechten Behandlung eine Gemeinschaft stabilisieren oder ihre Mitglieder dazu bringen kann, sich von ihr zu lösen. Indem er dies auf die archaische Periode anwendet, verbindet Delp dies mit dem Konzept der dīke, so genannt bei Hesiod (Hes. Erg. 202-212). In diesem Sinne diskutiert Delp erstens die Pflicht der basileis, für eine gerechte Verteilung der materiellen und sozialen Ressourcen zu sorgen, und zweitens die Bedeutung des nachbarschaftlichen Verhaltens (Hilfe in Notzeiten etc.) innerhalb einer Gemeinschaft. Wenn eines oder gar beides nicht garantiert sei, drohe eine Gemeinschaft zu zerfallen; sie könne aber auch als konstituierender Faktor einer auswandernden Gruppe wirken.

Im dritten Teil des Buches, der den Titel „Bahnen der Mobilität“ trägt, nimmt Delp zunächst das archaische Handelsnetz näher in den Blick, das ebenfalls oft als Katalysator für Migrationsprozesse genannt wird. Allerdings sieht Delp den Handel nur als eine von mehreren Möglichkeiten, sich die für die Migration notwendigen Ressourcen, wie zum Beispiel seemännisches oder geographisches Wissen, anzueignen. Dieselben Ressourcen könnten aber auch durch Gastfreundschaft oder Söldnertätigkeit erworben werden. Anhand von Homers Odyssee veranschaulicht Delp die Rolle der sozialen Stratifizierung im Zustand der Mobilität (die Seefahrt war kostspielig und erforderte eine starre Hierarchie, und die Gastfreundschaft war auf die basileis beschränkt), aber auch die Frage, welches Verhalten gesellschaftlich akzeptiert wurde und welches nicht. Anhand einer Stelle in Homers Ilias, in der Odysseus offen über seine Raubzüge prahlt, zeigt er, dass Piraterie und Raubzüge zumindest bei den Mitgliedern der basileis durchaus üblich und sogar akzeptiert waren.

Das abschließende Kapitel „Zu den Siedlern“ erörtert Aspekte, die mit den Siedlern möglicher Neugründungen zusammenhängen, wie Gruppenzusammensetzung, unterschiedliche Identitäten und mögliche Siedlungsszenarien. In den Abschnitten, die sich mit Letzterem befassen, wird die Frage aufgeworfen, wer in der Lage gewesen wäre, Siedlungsexpeditionen zur Gründung von apoikiai zu finanzieren. Hier kommt Delp zu dem Schluss, dass nicht nur die Mitglieder der basileis in der Lage gewesen wären, diese Reisen zu finanzieren, sondern dass sie aufgrund ihres sozialen und materiellen Kapitals auch diejenigen gewesen wären, die sie angeführt hätten. Damit ist die Notwendigkeit eines oikistes (Stifters) für Reisen gemeint, wie sie in den ktiseis (Gründungsmythen) beschrieben werden. Bei der Verwendung dieser Quellen greift Delp nun auf Texte zurück, die größtenteils aus der klassischen Periode stammen, was er aber eingangs ablehnte. Dies wird jedoch durch das Konzept der Plausibilität gerechtfertigt, da Delp der Meinung ist, dass diese Quellen, auch wenn sie einer lebendigen Tradition des Wandels unterworfen sind, Umrisse der historischen Authentizität enthalten. Er behauptet, sich auf strukturelle Bedingungen zu beziehen, die bestimmte Handlungsweisen voraussetzen, und nicht von „historischer Wahrheit“ zu sprechen. Seine Beobachtungen werden aber einem Forscher, der im momentanen Forschungsdiskurs zur griechischen Kolonisation versiert ist, gleichzeitig zu allgemein und zu detailliert erscheinen. Zu detailliert, da die Quellenlage bestimmte Behauptungen nicht zulässt – Delps Konzept der Plausibilität macht die Benützung der Gründungsmythen nämlich nicht viel unproblematischer. Zu allgemein, da dieselben Muster für einen großen geographischen Raum angenommen werden. In der Einleitung stellte Delp zwar fest, dass er sich dem Thema der griechischen Kolonisation von einem breiteren („Makro“-)Ansatz aus nähern möchte. Vor allem in Bezug auf Gründungsmythen wäre es aber von Vorteil, einen genaueren Blick auf die einzelnen Siedlungen und die Motivationen hinter manchen Gründungstraditionen zu werfen.

Der Beitrag von Delp zielt darauf ab, die als „Griechische Kolonisation“ bezeichneten Migrationsprozesse in der archaischen Zeit durch die Untersuchung literarischer Quellen zu beleuchten, wobei die archäologischen Quellen nur als „flankierende Maßnahme“ herangezogen werden. Dies ist für einen Althistoriker weder überraschend noch verwerflich. Es wäre jedoch sehr interessant zu sehen, wie Delps Erkenntnisse mit den archäologischen Daten korrelieren würden, da sie viel komplexer und nuancierter sind als das oft wiederholte Bild einer organisierten Gruppe, die unter einem Gründer reist, der zur lokalen Elite gehört.

Anmerkung:
1 In theoretischer Hinsicht lag der Fokus beispielsweise auf den Themen (Gemeinschafts-)Identität (Naoìse Mac Sweeney, Community Identity and Archaeology. Dynamic Communities at Aphrodisias and Beycesultan, Ann Arbor 2011), Ethnizität (Jonathan M. Hall, Ethnic Identity in Greek Antiquity, Cambridge 1997; ders., Hellenicity. Between Ethnicity and Culture, Chicago 2002), Materialität (Oliver Harris, Becoming Post-Human. Identity and the Ontological Turn, in: A. Maldonado / E. Pierce / A. Russell / L. Campbell (Hrsg.), Creating Material Worlds. The Uses of Identity in Archaeology, Oxford 2016, S. 17–37), und benutzen zur Beantwortung diverser Fragen etwa einen Ansatz aus der Netzwerkanalyse (Lieve Donnellan / Gert Jan Burgers / Valentino Nizzo (Hrsg.), Conceptualising Early Colonisation, Brüssel 2016, oder Malkin Irad Malkin, A Small Greek World. Networks in the Ancient Mediterranean, Greeks Overseas, Oxford 2011).

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